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Häusliche Pflege: Unsicherheit bei Infektionsschutz und Lohnausfällen

Ich arbeite in der häuslichen Pflege für einen privaten Pflegedienst in Baden-Württemberg. Wir arbeiten für Klient*innen, die teils aufgrund von Vorerkrankungen oder körperlichen Behinderungen zur Risikogruppe gehören. Die Klient*innen stehen vor dem Problem, dass bei ihnen teilweise täglich wechselnde Pfleger*innen ein- und ausgehen. Die Wahl, sich in physische Isolation zu begeben, haben sie nicht. Für die Pfleger*innen gilt das natürlich genauso, nur, dass sie proportional seltener zu Risikogruppen gehören dürften. Aber Home-Office ist offensichtlich keine Option. Alleine der alltägliche Arbeitsweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln und die Fahrten mit den vom gesamten Team genutzten PKWs des Pflegedienstes erhöhen natürlich das Infektionsrisiko um einiges. Und wie gut man sich während der Dienstausübung schützen kann, bei der körperliche Nähe durch pflegerische Tätigkeiten die Kernaufgabe ist, hat auch seine Grenzen. Unser Arbeitgeber hat uns am 19. März eine längere Liste mit Verhaltensanweisungen geschickt. Eingangs werden wir zu ausgiebigem Desinfizieren angehalten. Die Anweisung endet dann aber mit der Information, dass die nächsten zwei Wochen Mangel an Desinfektionsmitteln, Handschuhen, Einwegschürzen und Schutzmasken bestünde. Diesem Mangel solle mit Sparsamkeit bei Desinfektion und mit „alternativen Lösungen“ begegnet werden. Wie Letztere aussehen sollten, wird nicht erläutert. Selbst bei bester Ausstattung und einer früheren Information durch den Arbeitgeber würden zwangsläufig Unsicherheiten und (Berufs-)Risiken bleiben. Diese vergleichweise späte und ambivalente Anweisung hat das Grundgefühl nicht gerade verbessert.

Eine Organisierung unter den Arbeiter*innen besteht bei uns nicht. Da unsere Arbeit hauptsächlich bei den Klient*innen zuhause abläuft und die Schichten und Aufgaben sehr unterschiedlich sind, kennen sich viele Mitarbeiter*innen gar nicht. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Meine Arbeitszeit wird im Arbeitsvertrag nicht genau geregelt, sondern richtet sich nach dem Dienstplan. Als einige Klient*innen angesichts des Infektionsrisikos weniger Pflegeleistungen in Anspruch nehmen und dabei die Anzahl der eingesetzten Pfleger*innen reduzieren wollten, wurden bereits geplante Dienste durch die Klient*innen kurzfristig abgesagt. Zunächst hieß es mündlich, dass diese Dienste zwar aufgrund der Abrechnungsmodalitäten im März noch bezahlt würden. Die tatsächlich nicht geleisteten Stunden würden dann aber vom Aprillohn abgezogen werden. Für mich und manche meiner Kolleg*innen, die in intensiveren Blockdiensten mit halb- bis ganzwöchigen Pausen arbeiten, hätte das einen Totalausfall ihres Lohns bedeutet, also de facto eine unbezahlte Freistellung. Die Reaktionen auf diese Information waren jedoch überwiegend eine Mischung aus Verständnis und der Frage, wer denn jetzt wenigstens noch die wenigen verbleibenden Dienste bekomme. Es wurde als selbstverständlich hingenommen, dass wir (fest angestellten) Arbeiter*innen das finanzielle Risiko tragen müssten, das durch die gesunkene Nachfrage nach Pflegeleistungen entsteht. Erst nach einem Gespräch mit der Geschäftsführung wurde diese Info, die aus Gesprächen zwischen Klient*innen und Geschäftsführung kam, mir gegenüber revidiert und es wurde angekündigt, dass mein Märzdienst entsprechend Dienstplan vollständig bezahlt würden. Dadurch habe ich de facto eine bezahlte Freistellung im März gehabt. Was mit dem Großteil meiner Kolleg*innen ist, weiß ich nicht, da ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu längeren Diensten bei denselben Klient*innen anreise und mit den Betriebsräumen im Geschäftssitz und den Firmen-PKWs der mobilen Pflege keine Berührung habe.

Gestern Mindestlohn, heute „systemrelevant“

Als mein Lohn das letzte Mal angehoben wurde, konnte mich das kaum optimistisch stimmen: Es hat einfach eine Erhöhung des Pflegemindestlohns gegeben, die mein damaliger Arbeitgeber nicht unterlaufen durfte. Alle meine bisherigen Arbeitsverträge in den Pflege waren bei privaten Firmen ohne Tarifgeltung, Haustarifverträge, Betriebsräte oder Betriebsvereinbarungen. Mit Lohnerhöhungen konnte ich daher noch nie rechnen. Wenn ich an frühere Kolleg*innen in der mobilen Pflege bei anderen privaten Firmen denke, dann ist zudem klar, dass oft sogar der Mindeslohn faktisch unterlaufen wird: Weil die Krankenkassen minutengenaue Vorgaben machen, wie lange jeder Handgriff (Inkontinenzmaterial wechseln, Waschen, Anziehen, Transfer in den Rollstuhl etc.) dauert, wird die Arbeitszeit der Pfleger*innen danach bemessen. Das heißt, dass eine 8-Stunden-Schicht so geplant wird, dass abzüglich Fahrtwegen zwischen den Klient*innen genau diese abrechnungsfähigen Zeiten angesetzt werden. Nun entspricht aber die Realität der Pflege nicht den Taschenrechnern der Krankenkassen und Pflegedienstleitungen. Vielmehr kann es aufgrund von unterschiedlich auftretenden Schmerzen und anderen Beschwerden der Klient*innen häufig länger dauern, als die Kassen bezahlen. Diese Lücke decken auch die Pflegedienste nicht aus eigener Tasche ab. Dadurch geraten die Pfleger*innen regelmäßig in die Zwickmühle: Soll ich unbezahlte Überstunden machen oder die Klient*innen nachlässig waschen und ohne Rücksicht auf Schmerzen flott anziehen und transferieren? Ich habe kaum jemanden erlebt, der*die sich für Letzteres entschied. Hinzu kommen die Fahrtwege im PKW, die bei dem entsprechenden Dienst als „Pausenzeiten“ berechnet wurden, und angesetzte Zeiten für die Dokumentation der Pflege, die oft viel zu knapp waren. Dadurch machten viele Kolleg*innen regelmäßig unbezahlte Überstunden und arbeiteten somit unterhalb des Mindestlohns.

Als Hubertus Heil vor Kurzem ankündigte, sich für allgemeinverbindliche Tarifverträge für die Pflegebranche einsetzen zu wollen, wurde erneut das Dilemma der Fürsorgearbeit deutlich: Es braucht erstmal eine tiefe Wirtschafts- und Gesundheitskrise, damit die Pflege als „systemrelevant“ bezeichnet wird. Unser Mindestlohn oder dessen faktische Unterschreitungen haben sich bisher nicht so systemrelevant angefühlt. Und dann braucht es auch noch einen Arbeitsminister der Agenda 2010-Partei, der angesichts der Krise von oben für Tarifverträge wirbt – von unten haben wir bislang nicht die Stärke entwickelt, um solche Forderungen stellen zu können. Dort, wo meine Kolleg*innen und ich arbeiten, wäre aber auch schon das Schicksal eines ohnehin unwahrscheinlichen allgemeinverbindlichen Tarifvertrags in der Pflege besiegelt: Wo die Initiative von oben kommt, werden Tarifbestimmungen ganz unten, d.h. in den prekären privaten Pflegediensten und -einrichtungen, auch in Zukunft problemlos unterlaufen werden. Ganz abgesehen davon, dass ein Tarifabschluss in unserer Branche mit derart schwachem Organisierungsgrad wahrscheinlich ähnlich nutzlos ausfallen würde wie der kürzlich in Österreich erzielte. Das heißt auch, dass die Prämie von 1.500 Euro (bei Vollzeit), auf die sich ver.di und ein Pflegearbeitgeberverband geeinigt haben, für viele kein reeller Mehrverdienst im Corona-Jahr ist, sondern eher eine freiwillige und unproportionale Kompensation für jahrelange unbezahlte Überstunden.

Der zweite Teil des Dilemmas ist aber auch unser hohes Verantwortungsfühl für unsere Klient*innen. Wir würden selbst bei besseren Organisierungsmöglichkeiten sicherlich zurückhaltender in Arbeitskämpfe gehen, weil wir Verunsicherungen unserer Klient*innen, vor allem aber Ausfälle ihrer Pflege, nicht mit unserem Gewissen vereinbaren können.

Der/die Autor*in ist der Redaktion bekannt