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Länger schuften im Krisenfall!

Per Krisendekret wurde das Arbeitszeitgesetz in Deutschland bis auf Weiteres außer Kraft gesetzt – bisher hält sich die Empörung in Grenzen. Die DGB-Gewerkschaften kritisieren vorsichtig. Und die Wirtschaft bekommt, was sie schon vorher gefordert hatte. – Von Roman Waldheim`*

Stellt euch vor, ihr seid um 22 Uhr mit dem Arbeiten fertig, seit zwölf Stunden auf den Beinen, und morgen früh um 7 Uhr heißt es wieder: Angetreten! Denn ihr seid in einem der sogenannten „systemrelevanten“ Berufe tätig und dafür gibt es zwar Applaus (jetzt sogar mit göttlichem Beistand) – aber von nun an auch längere Arbeitszeiten und kürzere Pausen. Als Ausgleich für den Beifall sozusagen.

Bayern hatte wie häufig bei autoritären Verschärfungen die Vorreiterrolle, nun folgt der Rest von Deutschland. Eine neue Allgemeinverfügung des Arbeitsministeriums setzt vorübergehend das Arbeitszeitgesetz außer Kraft. Erweiterung der Höchstarbeitszeit, Verkürzung der Mindestruhezeit zwischen zwei Schichten von elf auf neun Stunden und die Erlaubnis von Sonn- und Feiertagsarbeit, und zwar vorerst befristet bis zum 30. Juli. Die Bezirksregierungen von Mittelfranken, Oberfranken, Niederbayern und Schwaben gehen dabei sogar noch weiter: Für die dortigen Beschäftigten gibt es den Bonus der Verkürzung der Pausenzeiten von 30 auf 15 Minuten (bis zehn Stunden) oder von 45 auf 30 Minuten (ab zehn Stunden). Begründet wird dies mit der Gefahr von Versorgungsengpässen – es sei im dringenden öffentlichen Interesse, die Produktion von existentiellen Gütern und Dienstleistungen zur Gewährleistung der Daseinsvorsorge auch in diesen Zeiten sicherzustellen. Die bundesweite Regelung erlaubt die Änderungen jedoch nur, wenn vorher alle anderen Möglichkeiten wie z.B. Personaldispositionen, Neueinstellungen etc. ausgeschöpft wurden. Inwieweit sich die jeweiligen Personalabteilungen der Unternehmen daran halten werden, sei dahingestellt – und bleibt nun der kritischen Beobachtung der Beschäftigten überlassen. Die oben genannten vier bayerischen Regierungsbezirke mit ihren Verordnungen vom 17. März waren wohl eine Art Testballon. Nicht auszuschließen ist es, dass das Beispiel Bayern auch deshalb Schule machte, weil es keinerlei öffentlich hörbaren Protest dagegen gab. Seit dem 8. April gilt die Arbeitszeitverlängerung nun für ganz Deutschland, mit einigen Abstrichen im Vergleich zur deutlich härteren bayerischen Variante. Vorbereitet wurde dies durch eine Ergänzung des Arbeitszeitgesetzes, die der deutsche Bundestag am 27. März verabschiedete.

Es handelt sich um einen „Angriff historischen Ausmaßes“, wie die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ in einem Aufruf schreibt. Betroffen sind laut der Allgemeinverfügung vor allem Arbeiter*innen in der Logistik, dem Gesundheitswesen und der Energieversorgung, also in jenen Berufen, die derzeit unter dem Überbegriff „systemrelevant“ eine gewisse öffentliche Wertschätzung erfahren. Eine Wertschätzung, die sich nicht unbedingt in besseren Arbeitsbedingungen ausdrückt. Vielmehr dürften die Beschäftigten die Änderungen nun als „Tritt ins Gesicht“ empfinden (FAU Plauen). Seit Jahren berichten die Beschäftigten in vielen dieser Berufe von Überlastung, nun kommt es richtig dick.

Seit Langem fordern Unternehmensverbände eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Auffällig ist, dass sich die Tendenz der erstmal temporär verabschiedeten Neuerungen mit einigen der Vorschläge deckt, die der VBW (Verband bayrischer Wirtschaft) im April 2019 bereits in einer internen Broschüre proklamierte. Beschönigend war davon die Rede, dass auch viele Beschäftigte gerne länger und flexibler arbeiten wollten – nur leider nicht dürfen. Ob das wohl die Arbeiter*innen im Supermarkt und im Gesundheitswesen genauso sehen? „Bayern für die Zukunft fit machen“ ist jedenfalls eine schöne Umschreibung für die kräftige Umsetzung von Kapitalinteressen.

Getreu dem Motto „bis jetzt ging alles gut“ fand sich zu den ersten Änderungen Ende März keine Äußerung zum Thema Arbeitszeit auf den Internetseiten und Social-Media-Auftritten des bayerischen DGB. Man hätte sich in diesen Tagen fragen können, ob man sich die Abschaffung des Arbeitszeitgesetzes nur eingebildet hat. Jedoch teilte der DGB Bayern auf Anfrage mit, dass er die Änderungen des Arbeitszeitgesetzes kritisch sehe und Arbeitsrechte nicht unter dem Deckmantel der Corona-Krise geschliffen werden dürften: „Gerade die Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel arbeiten ohnehin schon am Limit oder darüber hinaus. Mit der Anordnung, die Ladenöffnungszeiten werktags von 6-22 Uhr und sonntags von 12-18 Uhr auszuweiten und gleichzeitig die Ruhepausen zu verkürzen, steigt für sie nicht nur die Arbeitsbelastung, sondern auch das Risiko einer Ansteckung enorm“, so Herbert Hartinger, Pressesprecher des DGB Bayern. Man werde sich dafür einsetzen, dass die Ausnahmeregelungen mit dem 30. Juni enden und die Situation weiter genauestens beobachten. Zudem erklärt Hartinger, dass „die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes schon länger auf der Agenda der Staatsregierung“ stehe. Warum jedoch keine öffentliche Mobilisierung zum Thema stattfand und lieber abgewartet wurde, bis die Verschärfungen in ganz Deutschland umgesetzt wurden, bleibt ein Geheimnis. Lediglich die GEW positionierte sich in einer Pressemitteilung kritisch.

Auch jetzt scheinen DGB und ver.di sich den Ernst der Lage nicht eingestehen zu wollen: Sie wurden überrumpelt und gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Einige Punkte wurden wohl nachverhandelt, und der Einzelhandel darf aufatmen – er ist, anders als in der bayrischen Testvariante, nicht betroffen. Doch warum ein öffentlicher Aufschrei, eine öffentliche Thematisierung des „Klassenkampfes von oben“ (junge welt vom 11. April 2020) durch die größten Arbeiter*innenorganisationen ausbleibt, ist ein offenes Geheimnis: Der DGB (zumindest dessen Führungsetagen) ist gefangen zwischen dem Anspruch, Interessenorganisation der Arbeiter*innen zu sein, und dem Modell der Sozialpartnerschaft, bei dem in standortnationalistischer Weise zu allem geschwiegen werden darf, was das Interesse „der Nation“ berühren könnte. Die SPD schweigt unterdessen komplett zur Glanzleistung ihres Arbeitsministers Hubertus Heil, der die Aussetzung des Arbeitszeitgesetzes unterzeichnet hat. Wenigstens gibt es zu Ostern, wenn schon keine Erfolgsmeldungen, andere thematisch wichtige Pressemitteilungen der Bundestagsfraktion: „Alkohol gehört nicht in die Ostersüßigkeiten von Kindern.

Es bleibt also alles beim Alten in Deutschland: Die Sozialpartner verhandeln – die Arbeiter*innen werden das Ergebnis hinnehmen müssen. Deutschlands Krisenkorporatismus hat eine lange Tradition – ein Beispiel aus der dunklen Schlussphase der Weimarer Republik: Während sich mit der Gleichschaltung Preußens 1932 die Anzeichen für eine Machtübernahme der NSDAP und eine Ausschaltung der Arbeiterbewegung mehrten, widersetzen sich SPD- und ADGB-Führung der Bereitschaft der Gewerkschaftsbasis für einen politischen Streik und klüngelten lieber mit den Notverordnungsregimes von Schleicher und Papen, um dort eine Mitbestimmung zu erhalten. Die Massen wurden vertröstet, die Gewerkschaften versuchten zu retten, was nicht mehr zu retten war. (1)

Währenddessen werden im Hier und Jetzt weitere Angriffe auf die Arbeitsbedingungen geplant: Die Deutsche Post denkt über Sonntagszustellungen nach und auch der Einzelhandel will nun mit regelmäßigen Sonntagsöffnungszeiten noch stärker von der Krise profitieren. Stefan Genth, Chef des Handelsverbandes Deutschland, war sich nicht zu fein, Shopping als sonntägliche Freizeitaktivität zu verkaufen. Vielleicht finden sich ja Unternehmensleitungen, die kreativ genug sind, ihren Angestellten die Vorzüge der Sonntagsarbeit schmackhaft zu machen. Bis weit hinein in die bürgerlichen Parteien ist das offenbar so sehr Konsens, dass die Interessen der Beschäftigten in den Erwägungen gar nicht mehr auftauchen. So sorgte der selbsternannte SPD-Jungintellektuelle Nils Heisterhagen für Verwunderung, als er am 9. April folgenden Tweet platzierte: „Ich denke, wir müssen nach der Krise auch über eine einjährige Sonntagsöffnungserlaubnis für den Einzelhandel reden müssen. Als Ausgleich für #Corona. Kirchen und Gewerkschaften sollten das mittragen. Öffnung: 13.00-19.00 Uhr.“ (2) Auch der neoliberale „Deutsche Anwaltsverein“, Sprachrohr von Wirtschaftskanzleien und anderen Menschenfeinden, forderte gleich noch ein paar mehr Lockerungen, wie zum Beispiel die Aussetzung des Betriebsverfassungsgesetzes.

Viele Beschäftigte werden die Verschlechterung ihrer Bedingungen wohl mit dem Hinweis auf den Standort Deutschland untergejubelt bekommen. Andere werden sich fühlen wie die FIAT-Arbeiter*Innen in Nanni Balestrinis Roman „Wir wollen alles!“: Die Bedingungen sind nicht auszuhalten, aber Unternehmensleitungen, Partei und etablierte Gewerkschaften behaupten konsequent das Gegenteil (3). Es fragt sich, wie lange die Arbeiter*Innen, die derzeit durch Beifallklatschen und die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Presse zum Weiter-mitspielen-zu-alten-Bedingungen animiert werden sollen, das noch hinnehmen werden. Spätestens, wenn die Überlastung sich in physischen und psychischen Zusammenbrüchen äußert, wenn immer mehr Beschäftigte nicht mehr mitspielen können, wird es sich nicht mehr verstecken lassen: Die Krise wird auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die im Moment sowieso schon die ganze Versorgung auf dem Buckel schleppen. In Balestrinis Roman kommt der Punkt, an dem ein wilder Streik ausbricht, der ganz Turin mit sich reißt: „Es ist nicht gerecht, dass wir ein solches Scheißleben führen müssen, sagten die Arbeiter auf den Betriebsversammlungen und in den Grüppchen vor der Fabrik. Alle Waren und Reichtümer, die wir produzieren, gehören uns. Jetzt langt‘s. Wir halten es nicht mehr aus, dass wir bloß eine Sache sind, eine Ware, die verkauft wird. Wir wollen alles.“ (4)

*Roman Waldheim ist Mitglied der FAU Plauen. Er verdient sein Geld als freiberuflicher Spracharbeiter sowie als Aushilfe an einem Stadttheater. Als ehemaliger Barkeeper, Lokaljournalist und Langzeitarbeitsloser ist er aus eigener Erfahrung mit vielen Formen der Prekarität vertraut.

(1) Hans Mommsen: Die deutschen Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand 1930-1944, S. 367, in: Hans Mommsen, Arbeiterbewegung und nationale Frage, Göttingen 1979.

(2) Heisterhagen sorgt ansonsten gern mit anderen Themen für Verwirrung: Einem angeblichen „linken Realismus“, Pöbeleien gegen vermeintliche linksgrüne Identitätspolitik oder die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht.

(3) Nanni Balestrini: Wir wollen alles. in: Nanni Balestrini: Die große Revolte. Romantrilogie, Berlin/Hamburg 2008.

(4) Nanni Balestrini: Wir wollen alles, S. 90.