Bericht von Sergio Bologna aus dem italienischen Bundesland Lombardei, wo Covid-19 die Bevölkerung getroffen hat wie an keinem anderen Ort der Welt (Stand: 28.04.2020).
Übernommen vom Blog „Coronakrise Europa“.
Hiermit möchte ich aus erster Hand einige Hinweise zur korrekten Information über die Situation in der Lombardei geben.[1] Zuverlässige Quellen in Bezug auf kritische Analysen der von der nationalen Regierung und der Landesregierung veröffentlichten Daten, in Bezug auf Voraussagen über die weitere Entwicklung des Virus, auf den Zustand der Infrastruktur des Gesundheitssystems in der Region, bzw. kritische Analysen der laufenden Maßnahmen zur sozialen Distanzierung usw. finden sich unter folgendem Link:
www.marionegri.it/magazine/coronavirus
Das Institut Mario Negri in Mailand hat einen internationalen Ruf als wissenschaftliches Forschungszentrum, besonders hinsichtlich epidemiologischer Probleme sowie in Fragen der Hygiene und des öffentlichen Gesundheitswesens (publichealth). In insgesamt 10 Abteilungen mit 50 Laboratorien arbeiten am Institut ca. 700 Forscherinnen und Forscher. Einige Mitarbeiter der Redaktion der Zeitschrift „Sapere” (s. Anmerkung 1) kamen aus dem Forschungsumfeld des “Mario Negri”.[2] Der heutige Chef der Abteilung publichealth, Maurizio Bonati, hat vor kurzem einen sehr aufschlussreichen Artikel über die aktuelle Lage in der Lombardei im Newsletter “Volere la luna” veröffentlicht.[3]
Er schreibt: “Die Lombardei ist nicht nur in Italien, sondern weltweit die Region mit der höchsten Zahl an Todesfällen, die durch das Coronavirus verursacht wurden.” Wenige Tage zuvor hatte eine Gruppe von Ärzten des Krankenhauses “San Raffaele” eine Studie veröffentlicht, in der sie aufgrund von manipulierten Daten behaupteten, es gebe keinen “Fall Lombardei”, im Gegenteil, die Situation sei viel besser als in Brüssel oder Madrid.[4] Das Krankenhaus “San Raffaele” in Mailand ist das Symbol sowohl der Herrschaft von Berlusconi in der Lombardei wie auch der Tätigkeit von Comunione e Liberazione (einer para-kirchlichen katholischen Organisation), die in den letzten 30 Jahren das Gesundheitssystem in der Lombardei nach bestimmten Mustern reorganisiert hat, nach dem Motto: Das Gesundheitssystem muss Profite machen, man muss die Investitionen in hochtechnologische Therapien in Riesenkrankenhäusern konzentrieren, Prävention und Basismedizin werfen keine Profite ab, also sollen diese nach Möglichkeit reduziert werden. Auch wenn nur die Privatisierung großzügig finanziert worden ist, ist auch das öffentliche Gesundheitssystem von dieser Ideologie regelrecht angesteckt worden. So erwarb sich das System in der Lombardei einen internationalen Ruf als “excellent” – bei allen, die an die hypermoderne hochtechnologische Medizin glauben und der Prävention und der für alle zugänglichen Krankenkassenmedizin wenig oder keine Bedeutung zuschreiben.[5] Solange die Situation “normal” war, vermochte dieses System vielleicht noch zu funktionieren. Mit dem Ausbruch der Pandemie, durch die die allgemeine Hygiene auf eine harte Probe gestellt wird, hat es all seine Schwächen offenbart.
Lombardei: die doppelte Tragödie
Als ob die Situation nicht schon schwierig genug wäre, versucht die von der Lega Nord geführte Landesregierung nun auch noch von dieser Phase politisch zu profitieren, um eine noch stärkere Autonomie des Bundeslandes gegenüber der Regierung in Rom durchzusetzen. Dies ist der Grund für regionale Notstandsverordnungen, die denjenigen der Zentralregierung in Rom widersprechen oder sich derart davon unterscheiden, dass es manchmal schwierig ist zu verstehen, welchen Anordnungen ein normaler Bürger folgen soll. Von Anfang an war der Umgang mit dem Notstand auf regionaler Ebene katastrophal. Das Personal der Krankenhäuser und der Altersheime war ohne Schutzmittel auf sich selbst gestellt und noch schlimmer steht es bei den Familienärzten und Ärzten der allgemeinen Krankenkasse. In einigen Fällen wurde dem Personal verboten, Masken zu tragen, „um die Patienten nicht zu beunruhigen“. So ist es zu der enorm hohen Anzahl an Toten unter Krankenpflegern/innen und Ärzten gekommen, so haben sich Krankenhäuser und Altersheime in Ansteckungsherde verwandelt.
Statt die unzähligen Abteilungen der öffentlichen Krankenhäuser, die in den letzten Jahren geschlossen worden sind, wieder zu öffnen, hat die Landesregierung 21 Millionen Euro (hauptsächlich aus privaten Spenden) investiert, um ein neues Feldspital auf dem Areal der alten Mailänder Messe einzurichten. Die Zahl der untergebrachten Patienten ist aber wegen des Ärztemangels sehr gering. Das ungeschickte Improvisieren, die Unfähigkeit der Landesregierung ist eine Tragödie in der Tragödie, deswegen spreche ich von einer „doppelten“ Tragödie. Die Ärzteverbände haben Warn- und Protestschreiben veröffentlicht, sie haben versucht die Regierenden zur Vernunft zu bringen. Aber es war vergeblich,weil sie von der Opposition wenig bis keine Unterstützung erhalten haben (das ist vielleicht die Tragödie Nr. 3).[6]
Auf die persönliche Initiative des ehemaligen Mitglieds der Stadtverwaltung Mailand und jetzigen EU-Abgeordneten Giancarlo Majorino geht eine Unterschriftensammlung zurück. Ziel dieser Initiative ist es, bei der Regierung in Rom den Antrag zu stellen, der Landesregierung der Lombardei die Verantwortung über die Durchführung der Notstandsgesetze zu entziehen und einem staatlichen Kommissar zu übertragen. Dieser Antrag ist am 27. April in einer Pressekonferenz offiziell vorgestellt worden, fachlich und juristisch begründet. Mehr als 75.000 Unterschriften wurden dafür gesammelt.
Die Lage in den Industriebetrieben
Am 11. März verkündete die Regierung die Regeln zur sozialen Distanzierung. Mit diesen Verordnungen sollte der eigentliche lockdown beginnen; es gab eine Liste von Aktivitäten, die man noch ausüben durfte, und eine Liste von verbotenen Aktivitäten. In den Unternehmen, die weiter arbeiten durften, gab es diejenigen, die im Homeoffice arbeiten konnten, und diejenigen, die weiterin der Betriebsstätte arbeiten mussten. Die Spaltung zwischen Angestellten/Technikern und Arbeitern trat auf diese Weise klar zutage. Das rief eine Welle von Protesten bei den Arbeitern hervor. Dutzende von Streiks wurden spontan organisiert, die Betriebsräte wurden durch den Druck der Masse gezwungen, die Gewerkschaftsbürokratie zu aktivieren. Hunderte von Betriebsvereinbarungen wurden abgeschlossen. Das Gefühl der Arbeiter blieb gespalten zwischen der Angst vor der Ansteckung und der Angst vor der Perspektive einer neuen Krise mit einer noch höheren Arbeitslosigkeit als in der Folge der Finanzkrise von 2008/2009. Hinzu kam eine Welle von neuen Aufträgen von Seiten der deutschen Automobilbetriebe an ihre italienischen Zulieferer. Die Arbeiter wurden mit dem Versprechen eines besseren Einkommens angelockt. Die Einheit der Arbeiterklasse löste sich dadurch schnell auf, während die Industriellenverbände eine Pressekampagne zur Wiedereröffnung aller Betriebe entfesselten. Der Widerstand der Gewerkschaft geriet immer mehr ins Wanken. Die Situation in der Lombardei geht zum Teil sehr klar hervor aus diesen Interviews, die vor kurzem in Bergamo geführt wurden. Bergamo ist die Stadt, in deren Provinz es die höchste Zahl an Menschen gibt, die Covid 19 zum Opfer gefallen sind:
Ab 4. Mai wird der Lockdown weiter gemildert, die Fabrikstore dürfen wieder geöffnet werden, aber, wie gesagt, sie wurden zum Teil nie geschlossen. Inwieweit die lange Dauer der Ausbreitung auf diesen Zustand zurückzuführen ist, werden wir vielleicht nie genau wissen.
Italien bleibt und wird immer mehr ein undurchsichtiges Land. Seine Demokratie war nie so in Gefahr wie heute.[7]
Aber wir werden dagegen ankämpfen. Es ist alles andere als ausgemacht, dass wir verlieren werden. Um am Ende nichtin blinden Pessimismus zu verfallen, lassen Sie mich die Empfehlung aussprechen, eine Erzählung aus der satirischen Frauenzeitschrift “Erbacce” zu lesen. Es dauert nur dreieinhalb Minuten. [8]
Viel Spaß!
Sergio Bologna
[1] Ich lebe mit meiner Familie in der Hauptstadt dieser Region, in Mailand. In den 70er Jahren war ich Mitglied der Redaktion der interdisziplinären Zeitschrift “Sapere”, die die Arbeitsmedizin in Italien erneuert hat und Sammelpunkt der kritischen Medizin gewesen ist. Ihr Herausgeber war Giulio Maccacaro, ein Spezialist der Biometrie (auf Medizin angewandte Statistik), der im Jahr 1976 auch die Zeitschrift Epidemiologia e Prevenzione gegründet hat. In diesem Kontext entstand die Bewegung von “MedicinaDemocratica”.
[2] Z.B. Gianni Tognoni, heute Generalsekretär des vom Linkssozialisten Lelio Basso in den 70er Jahren gegründeten “Permanenten Völkergerichts”. Er hat vor kurzem zur falschen Bekämpfung des Virus Stellung genommen.
[3] Der Newsletter “Volere la luna” ist eine von Marco Revelli mitgegründete Initiative, die zusammen mit einer Stiftung und einer Kulturvereinigung sehr gute politische Arbeit in Turin und Umgebung leistet. Nach und nach fasst diese Initiative auch auf nationaler Ebene Fuß.
[4] https://www.milanofinanza.it/news/non-esiste-un-caso-lombardia-per-eccesso-di-mortalita-da-covid-19-202004161708293881
[5] Es gibt eine Reihe von guten und detaillierten Analysen der Gesundheitspolitik in der Lombardei, s. z.B. das Interview mit Vittorio Agnoletto in der neuen Zeitschrift “Officina Primo Maggio”, https://www.officinaprimomaggio.eu/blog/.
[6] S. die Stellungnahmen des Ärzteverbandes ANAOO in http://www.anaao.it/content.php?cont=28318
[7] Ein weiterer Schritt in Richtung Einschränkung der Demokratie vollzog sich durch die Machtkonzentration in der Presse: Die Agnelli-Familie, Eigentümerin des Fiat-Konzerns, hat die Aktienmehrheit an der Gruppe L’Espresso und Repubblica mit den 13 dazu gehörenden regionalen Tageszeitungen übernommen. Dazu s. das Kommentar von “Volere la luna” https://volerelaluna.it/commenti/2020/04/25/la-liberta-di-stampa-e-i-suoi-padroni/
[8] Der Name der Zeitschrift, die in den 80er Jahren bei der Frauenbuchhandlung in Mailand entstanden ist, lautete ursprünglich “Aspirina”. 2018 drohte der deutsche Konzern, die Autorinnen vor Gericht zu zerren, falls sie den per Eigentumsrecht geschützten Namen weiter benutzen würden. Die Redaktion musste nachgeben und benannte die Zeitschrift in „Erbacce“ um, was „Unkraut“ bedeutet. Aus Deutschland erhielten sie Solidarität von der Journalistin Gaby Weber.