zur Verfügung gestellt von Solidarisch gegen Corona.
Ich arbeitete bis vor kurzem im DHL-Express-Hub am Flughafen Leipzig-Halle in Schkeuditz (im Folgenden: DHL). Mit fast 6.000 Beschäftigten handelt es sich um einen der größten privaten Arbeitgeber in der Region. Das Hub ist ein zentraler Umschlagpunkt für Sendungen, die per Express-Service verschickt werden. Ich arbeitete vor allem in der Abteilung Reload, d.h. in der Beladung der Container für die Flugzeuge. Hierbei sortiert man Sendungen in neue Container um, die zuvor aus ankommenden Container aus der ganzen Welt im Offload ausgeladen wurden – wo ich kurzzeitig auch eingesetzt wurde. Die neu beladenen Flugzeuge steuern dann wiederum Ziele in der ganzen Welt an. Ich fing im Herbst 2020 an, bei DHL zu arbeiten, was auch bedeutet, dass ich den Normal-Zustand im Hub nur aus Erzählungen kenne. Ich kündigte kurz vor dem Lockdown, der Mitte Dezember erst in Sachsen und dann bundesweit beschlossen wurde. Vor allem über diesen Zeitraum kann ich im Folgenden berichten.
Meine Kündigung hat an sich nichts mit COVID-19 zu tun, wenngleich ich mich freue, mich nicht mehr Nacht für Nacht dem Ansteckungsrisiko auszusetzen. Denn Sachsen wurde im Zuge der zweiten Welle zum traurigen Spitzenreiter bei den COVID-19-Fällen. Das Hub stellte zwar bisher keinen COVID-19-Hotspot dar, so wie es sich mittlerweile bei einigen Amazon-Warenlagern in Deutschland nachweisen lässt. Allerdings kommen mehrere tausend Menschen aus verschiedenen Städten und Landkreisen hier jede Nacht zusammen. Auch wenn ich befürchte, dass die unten dargestellten Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichend sind, kann ich das als Laie nicht abschließend beurteilen..
COVID-19 wirkt sich aber keineswegs nur durch die Infektionsgefahr auf die Arbeit aus, viel entscheidender scheint mir das wachsende Frachtvolumen in der Pandemie. Anfang Dezember überstieg das nächtliche Frachtvolumen zum ersten Mal 630.000 Sendungen pro Nacht. 2020 war allgemein ein Rekordjahr für DHL, die dementsprechend auch Rekordumsätze machten. Um die Fracht zu bearbeiten, haben sie neue Arbeiter*innen in der Region angeworben, aber auch über Leiharbeitsfirmen von anderen Flughäfen und aus anderen Ländern der EU. Zusätzlich sammelten sich auf den Arbeitszeitkonten der Arbeiter*innen Überstunden an. Es ist nicht abzusehen, wann diese abgebummelt werden können. Einige Arbeiter*innen stoßen in dieser Situation physisch und psychisch an ihre Grenzen.
Da es sich bei DHL-Express nicht um ein klassisches E-Commerce-Unternehmen handelt, ist der Zusammenhang zwischen zunehmenden Online-Shopping und Pandemie hier nicht so klar wie bei Amazon oder Zalando. Allerdings werden im Internet bestellte Waren auch in dem Hub bearbeitet. Corona-spezifische Fracht, bei der der Sticker auf dem Paket auf Mund-Nasen-Schutz-Masken als Inhalt hinwies, hielt ich nur selten in den Händen. Neben Konsumartikeln spielen Express-Briefe, Ersatzteile und medizinische Güter eine große Rolle. Ich kann dabei aber nur von den Rutschen ausgehen, an denen ich arbeitete. Vielleicht werden nach Oslo andere Waren als nach Bombay geliefert.
Ich will auf sechs Ebenen beleuchten, wie sich die COVID-19-Pandemie auf die Arbeit im Hub ausgewirkt hat: (1) Die Zusammensetzung der Belegschaft, (2) die Ausbildung (3) die Arbeit selbst, (4) die Arbeitsrahmenbedingungen: Zeit und Geld, (5) Firmenideologie und betriebliche Öffentlichkeit, sowie (6) die Kampfbedingungen und Kampfformen der Belegschaft. Den letzten Punkt würde ich sehr gerne weiterdiskutieren. Ich sehe hier eine sehr konfliktreiche Situation. Warenlager, die spätestens seit den weltweiten Kämpfen bei Amazon für schlechte Arbeitsbedingungen bekannt sind, laufen auch in der Pandemie weiter ohne nennenswerte Ausgleichszahlungen oder gar eine Erweiterung der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeiter*innen, die sich einem erhöhten gesundheitlichen Risiko und erhöhtem Stress aussetzen müssen. Zugleich zeigen sich in den logistischen Betrieben viele Arbeiter*innen unzufrieden mit der Situation.
(1) Die veränderte Belegschaftszusammensetzung
Die Logistik boomt weltweit. DHL wächst in Leipzig immer weiter. Das Hub wird Jahr für Jahr immer weiter ausgebaut. So gibt es eine immense Nachfrage nach Beschäftigten. Auch schon vor der Pandemie schaltete das Unternehmen Werbekampagnen für neue Arbeiter*innen auf Straßenbahnen, Litfaßsäulen oder großen Plakaten an verschiedenen Orten Leipzigs. Die Nachfrage nach Arbeiter*innen hat aber in der Pandemie noch zugenommen. So gibt es jetzt auch Werbung auf Youtube und DHL bedachte zahlreiche Briefkästen in der Region mit ihren Flyern. Außerdem haben sie die Prämien beim „Mache Freunde zu Kollegen“-Programm verdoppelt. Man erhält hierbei eine Prämie, wenn man in seinem Umfeld neue Mitarbeiter*innen wirbt. Für eine neue Kollegin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von über 20 Stunden erhält man nach überstandener Probezeit eine einmalige Zahlung von 1000€. Zum ohnehin bestehenden Mangel an Arbeitskräften kommt erschwerend hinzu, dass einige Kolleg*innen bis zum Herbst aus Unzufriedenheit über die Arbeitsbedingungen in dem Laden gekündigt hatten. Einige wechselten dabei zum neuen Standort von Amazon Logistics am Flughafen, wo sie sich einen höheren Stundenlohn und weniger Arbeitsbelastung erhoffen. Mir empfahlen Kolleg*innen nachdrücklich dies auch zu tun. Die geringere Arbeitsbelastung lässt sich in einer Zahl ausdrücken: Bei DHL ist das Maximalgewicht einer Sendung 31,5 Kilo, Amazon wirbt mit 23 Kilo. DHL-Arbeiter*innen sind bei Amazon begehrt, weil sie vorweisen können, dass sie bereits eine Zuverlässigkeitsüberprüfung bestanden haben. Diese Überprüfung ist in der Flughafenarbeit obligatorisch. Sie kann sich jedoch über mehrere Monate hinziehen, was einen schnellen Arbeitsstart verhindert.
Unter den neuen Kolleg*innen befanden sich auch bereits solche, die im Zuge der Pandemie ihren Job verloren hatten, etwa weil Geschäfte und Kultureinrichtungen schließen mussten. Aber DHL verließ sich nicht auf den Arbeitskräfte-Pool in der Region, sondern warb auch über Leiharbeitsfirmen Arbeitskräfte aus dem südöstlichen EU-Ausland an, sowie sehr viele Arbeiter*innen, die bis zur Pandemie als Leiharbeiter*innen an anderen deutschen Flughäfen waren. Diese Arbeitskräfte haben unterschiedlich lange Verträge bis zu einem halben Jahr. Während dieser Zeit leben sie auf Kosten ihrer Leiharbeitsfirma in den ansonsten wohl eher leeren Hotels in der Innenstadt. Die Kolleg*innen bewerteten die Unterkunft in Einzelzimmern in der Nähe zur S-Bahn positiv. Sie hatten hier in Westeuropa schon schlechtere Erfahrungen gemacht.
Die meisten Kolleg*innen aus dem EU-Ausland, die ich kennen lernte, sprachen kein Deutsch. Das weckte in mir gleich Assoziationen von Betrug durch die Unternehmer. Ich dachte an die entsprechenden Skandale in der Fleischindustrie oder der Landwirtschaft, die in den Monaten zuvor bekannt geworden waren. Migrantische Kolleg*innen versicherten mir aber, dass die Verträge rechtlich passen und das Gesamtpaket stimmen würde. Gleichzeitig fanden auch sie die Nachtarbeit ätzend bei diesem Lohn und gängelnden „Gelbwesten“ (Vorarbeiter*innen, die im Unterschied zu den einfachen Arbeiter*innen mit ihren orangefarbenen Westen gelbe Westen tragen). Sie gaben durchgängig eine hohe Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern als Grund an, im Hub zu arbeiten.
(2) Ausbildung
Bei DHL geht dem eigentlichen Arbeitsbeginn eine zehntägige, bezahlte Schulung voraus: das sogenannte CIS-Training. Es soll die künftigen Arbeiter*innen zu sogenannten Certified International Specialists machen. Hier bekommen die künftigen Arbeiter*innen die Firmenideologie vermittelt, nehmen an Sicherheitsschulungen teilen und erhalten Wissen über den Arbeitsprozess. Ob die Verkürzung der Kurse direkt mit der Pandemie zusammenhängt, weiß ich nicht, aber anscheinend dauerten sie noch vor zwei Jahren zwei Wochen. Allerdings sind bestimmte praktische Anteile und Gruppenarbeiten herausgefallen. Zum Beispiel erhielten wir die Einführung in das PC-Programm nur über Folien, was ein weiterer Grund sein könnte, weshalb es bei mir so lange dauerte, bis ich das Programm verstand. Es ist deswegen so wichtig, weil in dieses Programm der physische Prozess der Sendungsverladung digital gespiegelt wird. Jeder Container wird sowohl physisch als auch digital angelegt, jede Sendung wird sowohl physisch als auch digital in den Container geladen. Das ermöglicht die Kontrolle des Sendungsverlaufs.
Das Ansteckungsrisiko bewerte ich so hoch wie in jedem anderen Klassenzimmer. Wir saßen in der Praxis viel enger aufeinander, als in der Planung vorgesehen. Die Trainer*innen redeten meistens ohne Maske. Man muss aber dazu sagen, dass im September die COVID-19-Fallzahlen in Leipzig nicht bedenklich waren. Im Unterschied zur Schule sind bei diesen Schulungen aber häufiger Risikopatienten im Raum, denn Arbeiter*innen verschiedener Generationen fangen derzeit bei DHL an.
Die Kolleg*innen aus dem EU-Ausland hatten eine verkürzte CIS-Schulung auf Englisch. Kolleg*innen, die kaum Englisch sprachen, wurden dann in den einfacheren Handarbeitstätigkeiten – der Entladung von Containern – eingesetzt, Englisch und Deutsch sprechende auch in der Beladung. In letzterem Bereich ist die Kommunikation zwischen Arbeiter*innen und Gelbwesten wichtiger, vor allem aufgrund von Problemen, die meistens mit dem Computerprogramm zusammenhängen. Es gibt ein Kommunikationsproblem, da die deutschen Kolleg*innen sich nicht mit den nicht Deutsch sprechenden verständigen können oder eben nur in einer nicht immer eindeutigen Zeichensprache. Die Verständigung ist aber wichtig, um den Arbeitsprozess kennen zu lernen. Man lernt als Neue*r sehr viel durch Hinweise, die erfahrenere Kolleg*innen nebenbei von sich geben.
Dieses Nicht-Verstehen der Prozesse und die hieraus resultierende Hilflosigkeit ging den Leiharbeiter*innen auf die Nerven. Es ist kein schönes Gefühl, die ganze Zeit wegen Problemen die Vorgesetzten ansprechen zu müssen, vor allem, wenn man ein prekäres Arbeitsverhältnis hat. Sie reagieren unter dem Stress der Nacht mitunter gereizt, auch wenn eine Frage-lieber-nochmal-nach-Kultur gepredigt wird. Die Kolleg*innen zeigten sich sehr dankbar, wenn man ihnen Tipps für das Beladen der Container gab oder Details des Computerprogramms erklärte. Länger angestellte Kolleg*innen machten nachvollziehbarerweise den Eindruck, dass es für sie zusätzlichen Stress bedeutet eine*n Neue*n neben der eigentlichen Arbeit einzuarbeiten, vor allem, wenn eine Sprachbarriere existiert. Teilweise verhinderten die Gelbwesten auch aktiv die Weitergabe von Wissen, wenn sie das Arbeitstempo beeinträchtigte. Für mich war es ein Akt von Solidarität, den Kolleg*innen zu helfen, vor allem, da ich selbst wusste, wie klein der praktische Nutzen der Ausbildung in der Trainingswoche ist. Zugleich dachte ich mir teilweise, dass das doch der Job von DHL sein sollte, die Arbeiter*innen umfangreich auszubilden.
(3) Arbeitsplätze
Seit der Pandemie gibt es an den Arbeitsplätzen, in den Gängen, auf Treppen, sowie in den Pausenräumen eine umfassende Maskenpflicht. In der Kantine wurden zusätzlich die Tische auseinandergezogen, so dass die Kolleg*innen sich beim Essen nicht zu nahe kommen. Das erschwert natürlich Tischgespräche. Zuletzt wurde mit Abschaffung der Raucherinseln gedroht, wenn die Arbeiter*innen beim Rauchen nicht in den markierten Kreisen stehen, sondern miteinander „kuscheln“.
Während des Arbeitens müssen die Masken getragen werden, wenn zu zweit oder mit mehreren zusammengearbeitet wird, was man ca. 50 % der Zeit tut. Wir tragen dabei die normalen hellblauen Stoffmasken, die die anderen vor uns, aber einen nicht selber schützen. Ich denke aber, dass sich DHL auch bessere Masken leisten könnte. Teurere Masken würden aber auch bedeuten, dass das Luftholen erschwert wäre und die Arbeiter*innen mehr Pausen bräuchten. Die ausgeteilten Masken behindert das Luftholen nicht so stark, wie man meinen könnte. Da durch die Tore in den Außenbereich, die immer wieder geöffnet werden, um beladene Container zum Abholen rauszuschieben, viel Luft hineinströmt und die Decken in der Halle sehr hoch sind, hatte ich das Gefühl, dass die Luftzirkulation recht gut ist. Die Maskenpflicht wurde nicht sehr ernst genommen in den ersten Wochen meiner Anwesenheit Anfang Herbst. Das hat sich aber mit den steigenden Fallzahlen dann geändert. DHL pochte mehr auf die Durchsetzung der Regeln. In einem Teammeeting – einem fünfzehnminütigen Treffen der Arbeiter*innen einer Station, in dem unter Anleitung einer Gelbweste die vergangene Nacht ausgewertet und die aktuelle besprochen werden soll – nannte eine Gelbweste es einen Abmahnungsgrund, wenn man ohne Maske am Arbeitsplatz erwischt wird. Ich habe allerdings nicht das Gefühl, dass die Gelbwesten es wirklich kontrollieren, vielmehr warnten sie uns vor den Duty-Manager*innen, die hier ein Auge darauf hätten, wenn sich Arbeiter*innen beim Be- und Entladen der Container ungeschützt zu nahe kämen. In meinem Reload gab es Gesprächsnotizen wegen Verstößen gegen die Maskenordnung. Hierbei sei erwähnt, dass gegenüber der Belegschaft bis zu meinem Ausscheiden Anfang Dezember niemals aktuelle Fallzahlen im Betrieb kommuniziert wurden. Ich hörte nur gerüchteweise, dass es vereinzelte Fälle gegeben hätte, die sich aber nicht mit der Arbeit in Zusammenhang bringen ließen.
Die Regeln wurden mit der sich zuspitzenden Lage immer ernster genommen, aber manche Kolleg*innen beklagten sich über die Atembelastung. Ich denke aber, dass die Belastung auf Arbeit vor allem deswegen zunahm, weil sich das Frachtvolumen und die Zahl der nächtlich abhebenden Flugzeuge vergrößerte. Der Stress wurde durch die Gelbwesten verstärkt. Sie gängelten Arbeiter*innen, die die Sendungen auf der Rutsche vor sich zu langsam in den Container luden. „Nicht schlafen hier!“, „Warum blinkt deine Lampe schon wieder?“, „Machst Du das eigentlich mit Absicht?“ – Ich fühlte mich durch solche Kommentare von der Seite nicht wirklich ernst genommen und wie ein Trottel behandelt. Ich habe dadurch verstanden, was fehlende Wertschätzung bedeutet.
Ich muss dazu sagen, dass die Duty-Manager*innen die Gelbwesten anrufen, wenn eine Rutsche zu langsam entladen wird gemessen an der Fracht, die auf ihr liegt. Irgendwann ist die Rutsche voll und es können keine neuen Sendungen mehr aus dem Offlad auf die Rutsche geladen werden. Die logistische Kette stockt. Teilweise versuchten die Gelbwesten auch Empathie zu erzeugen, um unser Tempo zu erhöhen: „Ich habe keinen Bock, die ganze Nacht Anrufe vom Duty zu kriegen, nur weil bei dir die ganze Nacht die Rutsche steht.“, „Willst Du mein Telefon und dem Duty erklären, warum deine Rutsche die ganze Zeit steht?“.
Ich kann nicht sagen, ob die Gelbwesten schon immer so stressig waren. Aber auch für sie wird mehr Fracht mehr Stress bedeuten. Zugleich muss ich betonen, dass ich mich über die Wochen an diese Ansagen gewöhnte und sie mich nicht mehr trafen. Kolleg*innen rieten mir, die Gelbwesten einfach zu ignorieren. Ein anderer Kollege sagte: „Wenn die Gelbwesten so klug wären, wie sie tun, dann würden sie nicht bei DHL arbeiten.“ Ein weiterer Kollege meinte selbstbewusst: „Hier ist noch nie jemand wegen zu geringer Leistung entlassen worden. Das können die sich gar nicht erlauben.“ Relativ am Anfang erhielt ich den Rat, dass ich mir nichts von der Gelbweste sagen lassen soll. Ich bekomme ja auch nicht mehr Geld, wenn ich schneller arbeite. Ich fand es sehr schön, diese sehr einfache Wahrheit zu hören. Sie ist einem manchmal nicht bewusst.
(4) Arbeitsbedingungen: Zeit und Geld.
Das steigende Frachtvolumen ohne entsprechendes Anwachsen der Belegschaft führt dazu, dass die Arbeiter*innen mehr und vor allem länger arbeiten müssen. Die Zahl an monatlichen Überstunden, die das Management anordnen darf, wurde ursprünglich unter dem Vorwand, Kurzarbeit zu verhindern, mit Zustimmung des Betriebsrates deutlich erhöht. Vor COVID-19 durfte das Management maximal vier Überstunden oder Minusstunden für die Arbeiter*innen anweisen. Diese Begrenzungen wurden gekippt. Laut einem Kollegen darf Arbeiter*innen die doppelte Wochenarbeitszeit im Monat als Überstunden angewiesen werden. Ein Arbeiter, der 20 Stunden pro Woche arbeitet, darf dann 40 Überstunden haben. Kolleg*innen meinten aber, dass sie inzwischen bei weit über 100 Überstunden sind. Es ist manchmal schwer sich den Überstunden zu entziehen – gerade wenn man in der Probezeit ist. Ein Kollege in der Probezeit hatte mal den Teamleiter gefragt, ob er wegen seiner Kinder früher nach Hause darf. Dieser hielt ihm dann eine Standpauke bezüglich seiner Arbeitsmoral. Es erschien mir fast wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Arbeiter*innen bei angeordneten Überstunden blieben, selbst wenn bei ihnen individuell keine mehr angeordnet werden konnten. Es ist zugleich vollkommen unklar, wann man die Überstunden abbauen soll, wenn man sie sich nicht auszahlen lassen möchte. Man bekommt quartalsbedingt derzeit nicht frei – außer mit Krankenschein. Die zahlreichen Überstunden sind häufig Gegenstand von zynischen Witzen am Arbeitsplatz und in den Pausenräumen. Als wir Anfang Dezember dann die Rekordnächte hatten, wurden aus den zynischen Witzen immer lautstärkere Proteste in den Team-Meetings.
Neben den Überstunden regen sich die Arbeiter*innen auch darüber auf, dass es keine angemessene finanzielle Entschädigung bspw. in Form eines Pandemie-Bonus gibt. Es gab wohl nur einen einmaligen 300€-COVID-19-Bonus, den alle, die ich fragte, lachhaft fanden. Außerdem soll es eine Gutschrift über 20€ auf das Kantinen-Konto geben. Neben diesen monetären Boni gab es in der Adventszeit auch kleine Geschenke wie Schoko-Nikoläuse oder ein 60ml-Fläschen mit einem feurig scharfen Apfel-Ingwer-Shot. Zwar zeigten sich einige Kolleg*innen erfreut über die netten symbolischen Gesten, aber in der Mehrzahl meinten die Kolleg*innen, dass sich Dankbarkeit in höheren Löhnen ausdrücken sollte. Ein Kollege bezeichnete den goldenen Schoko-Nikolaus als ein „vergiftetes Geschenk“, das er nicht haben wollte. Würde er es annehmen, hätte DHL die Legitimation von ihm Überstunden zu verlangen.
Eine weitere Adventsüberraschung war das Konzert eines Blasorchesters mit Gewandhaus-Musikern. Als die Musiker kurz vor 20 Uhr anfingen „Es ist ein Ros` entsprungen“ und andere Weihnachtslieder zu spielen, mussten die meisten Arbeiter*innen sich aber schon durch das Orchester und das Publikum zur Arbeit reindrängeln oder sich in den Umkleiden für die Arbeit fertig machen. So erfreuten sich vor allem Gelbwesten und Angestellte an dem Konzert unter der reichlich geschmückten Riesentanne vor dem Terminaleingang. Das Konzert wurde natürlich für die Außenpublicity des DHL Hub genutzt. Ein Kollege meinte, wenn DHL wirklich gewollt hätte, dass die Arbeiter*innen das Konzert sehen, dann hätte das Unternehmen ihnen eine halbe Stunde bezahlte Extra-Pause gegeben.
(5) Firmenpropaganda
DHL zeigt sich neben diesen Gaben auch in Schriftstücken dankbar gegenüber der Belegschaft, die dem Unternehmen in diesen Krisenzeiten Rekordumsätze beschert. So ist in der zweiten Ausgabe der Mitarbeiterzeitung LEJ Hub News von 2020, die natürlich vom Unternehmen selbst herausgegeben wird, zu lesen:
„Menschen verbinden und ihr Leben verbessern. Die Mission der DPDHL Group gewann in den zurückliegenden Wochen eine noch dringendere Bedeutung. Kunden rund um den Erdball sahen sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, als das öffentliche Leben zur Eindämmung der Corona Pandemie heruntergefahren wurde. Aufrecht erhalten wurde eine kritische Infrastruktur, zu der das Netzwerk von DHL und damit auch das Hub Leipzig gehört.
„Das ist nicht selbstverständlich“, so das Feedback in einer Kunden-E-Mail. Nachrichten, wie diese, erreichten die Redaktion der LEJ Hub News in den letzten Wochen häufig, denn für viele Unternehmen konnte durch den Service von DHL Express ihr eigenes Geschäft aufrecht erhalten werden und darüber freuen sie sich natürlich sehr. Was wichtig ist: Es ist nicht einfach nur ein Service, damit andere Unternehmen weiter Geld verdienen können. Es ist ein Service, der es ermöglicht, dass durch dieses verdiente Geld, Menschen vielleicht ihren Arbeitsplatz behalten können. Es ist auch ein Service um Menschen in anderen kritischen Infrastrukturen zu unterstützen, dass diese wiederum anderen Menschen helfen können. Zum Beispiel, indem sie das Corona Virus durch Forschung bekämpfen.
„Wir halten die Weltwirtschaft am Laufen“., so DPDHL CEO Frank Appel….“
Unter dem Artikel stehen Dankesworte von Kunden aus der Automobilindustrie, Pharmaindustrie usw. Die Namen der Unternehmen werden nicht genannt. Derartige Dankesworte von den DHL-Großkunden oder der Geschäftsleitung (oder auch Hinweise auf die Corona-Regeln) werden auch über Flatscreens übermittelt, die etwa im Eingangsbereich der Terminals sowie den Kantinen und Pausenräumen montiert sind. Die Firmenpropaganda ist also allgegenwärtig.
Die Arbeit wird durch diese Propaganda aufgewertet. Die DHL-Arbeiter*innen müssen viel leisten, nicht nur um die Weltwirtschaft am Leben zu halten, sondern auch um Leben zu retten. Ich nehme an, dass der Umstand, dass DHL Express jetzt auch an der Impfstofflieferung beteiligt sein wird, in diesem Kontext ausgeschlachtet wird. Wie ich aber gezeigt habe, folgen diesen Worten keine Taten, was den Geldbeutel der Beschäftigten angeht. Es ist eine Pflicht, die die Arbeiter*innen zu leisten haben. Mehr als Worte der Anerkennung haben sie nicht zu erwarten. Das ist nichts anders als in den Krankenhäusern und anderen Produktionsstätten, die in der Pandemie auf Hochdruck weiterlaufen.
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit diese Propaganda in der Belegschaft ankommt. Ich sah nur selten Kolleg*innen, die auf die Flatscreens glotzen. Mir gegenüber haben auch nie Kolleg*innen geäußert, dass sie stolz sind, in dieser schweren Zeit bei DHL zu arbeiten und die Weltwirtschaft am Leben zu halten. Die Kehrseiten des wachsenden Frachtvolumens wie Überstunden und mehr Belastung waren viel häufiger Thema der Gespräche am Arbeitsplatz. Allerdings kann ich auch nicht in die Köpfe der Leute schauen und ich weiß nicht, ob manche doch eine Aufwertung ihrer Arbeit spüren. Es ist deshalb schwer einzuschätzen, wie weit die Propaganda wirkt.
(6) Kampfbedingungen und Kampfformen der Belegschaft
Zum Abschluss möchte ich einen Blick darauf werfen, wie zum einen die Gegenwehr der Arbeiter*innen gegen die COVID-19-Situation aussah und zum anderen, wie in dieser Seite von der Belegschaft Forderungen artikuliert wurden. Ich beginne mit letzteren.
In der gegenwärtigen Situation laufen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft Ver.di und der Geschäftsführung über den auslaufenden Tarifvertrag Ich habe in meiner Zeit bei DHL Express allerdings keine in Betriebsgruppe oder Betriebsrat aktiven Verdianer*innen kennengelernt, der mir nähere Informationen gab. Es gab im Infokasten der Ver.di, der in der Nähe der Kantine angebracht ist, keine näheren Informationen zum Stand der Verhandlungen. In der Belegschaft kursiert die Zahl von 5 % als Forderung der Gewerkschaft. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass die Verhandlungen sehr abgeschottet von der Belegschaft stattfinden. Ein Streik als Mittel gewerkschaftlicher Machtdemonstration scheint nicht in Aussicht zu sein. Streiks waren in der Vergangenheit wirkungsvoll. Eine Kollegin berichtete, dass bei einem Streik vor sieben Jahren noch über Wochen Rückstau spürbar war. Allerdings kann ich nicht den gewerkschaftlichen Organisierungsgrad der Gewerkschaft bewerten. Wie viele Arbeiter*innen wären bereit raus zu gehen, wenn die Ver.di zum Streik aufruft?
Einmal rief ein Kollege nach der Ankündigung von Überstunden die Kollegen um sich herum zum Streik auf. Die meisten nahmen es als Witz auf. Ich denke, ein spontaner Streik in einem Reload könnten in den sensiblen logistischen Infrastrukturen schon für Chaos sorgen, wenn er letztlich dazu führt, dass die Flugzeuge unten bleiben müssen, wodurch es im weltweiten logistischen System zu Verzögerungen kommt. Häufige Verspätungen bei größeren, wichtigen Expresslieferungen können bei DHL zum Kundenverlust führen. Zumindest ist es das, was uns im Training und vom Management erzählt wird. Es gibt auch wirklich mehrere Konkurrenten auf dem Markt wie UPS oder Hermes.
Generell frage ich mich und andere Kolleg*innen sich auch, warum der Betriebsrat diese enorme Ausdehnung der Überstunden überhaupt zulässt, die der Gesundheit und dem familiären sowie sozialen Leben der Kolleg*innen schaden. Ich als alleinstehender Mann habe ja schon Probleme gehabt, meine Reproduktionsarbeit zu verrichten und noch ein bisschen Freizeit zu haben, ehe ich wieder zur Nachtschicht los musste. Ein Kollege, der zu dem Zeitpunkt unseres Gespräches schon gekündigt hatte, meinte, dass es momentan keine Interessensvertretung der Arbeiter*innen im Hub gibt. Laut Betriebsratsschaukasten laufen die Corona-Überstunden-Regelungen allerdings nach dem Weihnachtsgeschäft, wenn das Frachtvolumen wieder runtergeht, aus.
So greifen die Arbeiter*innen auf andere Mittel zurück. Sie entziehen sich durch Kündigung oder Krankschreibung der Arbeit. Kündigungen und das Prahlen damit, blau gemacht zu haben, sind in der Belegschaft hoch angesehen. Als ich von meiner Kündigung erzählte, erhielt ich von den Kolleg*innen bestärkende Worte. Manche freuten sich direkt für mich. Ich will damit aber keineswegs sagen, dass der Krankenstand sich nur über blaumachen erklären lässt. Unabhängig von COVID-19 kann vor allem das Heben von schweren Paketen bei hohem Tempo zu Verletzungen führen.
Ein migrantischer Kollege erzählte mir, dass die Leiharbeitsfirma mit DHL einen neuen Deal ausgehandelt hatte. Die Kolleg*innen sollten plötzlich acht statt sechs Stunden pro Nacht arbeiten. Mehrere Kolleg*innen ließen sich das nicht gefallen und fuhren hierauf auf Kosten der Leiharbeitsfirma zurück in ihre Herkunftsländer. Generell führen die Sprachbarrieren leider zu einer Trennung der Belegschaft, weshalb solche Erfahrungen nicht geteilt werden. Zugleich hoffe ich, dass das gemeinsame arbeiten nebeneinander auch Arbeiter*innen aus verschiedenen Ländern zusammenführen kann.
Aufgrund der hohen Nachfrage nach Arbeitskraft scheinen die Kolleg*innen sich fest im Sattel zu fühlen. Die Kolleg*innen meinten zu mir immer, dass ich mich nicht stressen lassen soll – auch nicht in der Probezeit. Ich frage mich aber, wieso dieses Wissen um die eigene Jobsicherheit bei gleichzeitiger Unzufriedenheit um die Arbeitsbedingungen nicht zu entsprechendem radikaleren Forderungen führt entweder durch die Gewerkschaft Ver.di selbst oder andere Organisationen der Belegschaft, die noch gegründet werden müssten.
Des Weiteren hoffe ich, dass die Sicherheitsmaßnahmen ausreichend sind, um die Belegschaft auf Arbeit vor einer COVID-19-Infektion zu schützen!