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Corona in den Schlachthöfen

Den folgenden Beitrag „Corona in den Schlachthöfen“ übernehmen wir mit freundlicher Genehmigung von dem Blog „Solidarisch gegen Corona“.

Seit März hören wir immer wieder: Menschen aus verschiedenen Haushalten dürfen sich nur noch zu zweit treffen. Rausgehen darf man nur noch für Spaziergänge, zum Einkaufen und für die Arbeit. Das kurze Wörtchen „Arbeit“ steht ganz arglos in diesen Aufzählungen. Im März bekamen die Leute bei der Vorstellung frivoler Corona-Partys Schnappatmung, Anfang April ereiferte man sich tagelang über gefährliche Luftströme beim Joggen. Derzeit skandalisiert Twitter zurecht die Entscheidung der Kultusminister, dieses Jahr Abi schreiben zu lassen.

Bei dem Wörtchen Arbeit bleiben die Gemüter ruhig, wenn es nicht gerade um Heldinnen in Krankenhäusern oder um die aufregende neue Welt des Homeoffice geht. Doch von den Arbeitskräften mit niedriger oder mittlerer Schulbildung arbeiten weit über 60% nach wie vor beim Arbeitgeber, weit unter 20% im Homeoffice. Hinter dem unschuldigen „Weg zur Arbeit“ verbirgt sich eine Wirklichkeit, die für die Ausbreitung der Seuche zentrale Bedeutung hat.

Egal ob in Mailand, Madrid oder New York: in den Hotspots der Pandemie fahren Pendler immer noch in vollgestopften Öffis zum Arbeitsplatz. Dort angelangt, verbringen sie den Großteil des Tages zusammengepfercht mit dutzenden, hunderten oder sogar tausenden Menschen, häufig in geschlossenen Räumen. Das kann ein Warenlager sein, oder eine Fabrik, ein Büro oder eine Baustelle. Häufig teilen sie sich die Arbeitsmittel mit anderen oder arbeiten buchstäblich Hand in Hand in arbeitsteiligen Produktionsabläufen.

Eine Versammlung vieler Menschen aus verschiedenen Haushalten, Körper dicht an dicht, Berührungen. Man atmet die gleiche, abgestandene Luft: das klingt in der aktuellen Situation ziemlich gefährlich, und das ist es auch. Das sind die Corona-Partys des Kapitals, gespenstische Feste, zu denen die Gäste nur äußerst scheu und widerstrebsam erscheinen. Es ist der stumme Zwang der Verhältnisse, der sie tagtäglich in diese Ansteckungsherde treibt. Denn viele Lohnabhängige müssen sich jetzt zwischen Gesundheit und Einkommen entscheiden. Beziehungsweise zwischen Armut und Krankheit. Das ist ordinäre Erpressung, in unserer Gesellschaft aber anscheinend nicht einmal der Rede wert.

In Italien wütete die Seuche in den produktivsten Zonen des Landes besonders erbarmungslos. In den USA ist eine Fleischfabrik im Mittleren Westen der größte Corona-Cluster. Die Unternehmensleitung scherte sich wochenlang nicht um die begründete Ansteckungsangst der Arbeiterinnen und Arbeiter, und ließ die Produktion weiterlaufen als längst Fälle bekannt waren. Als die Fabrik am 15. April auf massiven Druck hin endlich schloss, gab es 644 Fälle unter den Arbeiterinnen, Arbeitern und ihren Angehörigen.

In Deutschland das gleiche Spiel in einer Fleischfabrik bei Pforzheim. Bei Müller-Fleisch in Birkenfeld gab es am 17. April schon 90 positiv getestete Fälle, eine knappe Woche später sind es 139 der über 1000 Beschäftigten. Obwohl viele Tests noch immer ausstehen, läuft die Produktion munter weiter. Man hat einfach sämtliche Mitarbeiter unter „Quarantäne“ gestellt, erklärt die Leiterin des zuständigen Gesundheitsamts in den Badischen Nachrichten: „Das bedeutet, dass sie zur Arbeit kommen, aber ansonsten die eigenen vier Wände nicht verlassen dürfen“. Mit anderen Worten: es stört keinen, wenn sie sich weiterhin gegenseitig beim Schuften anstecken, solange sie dabei unter sich bleiben und keine unbescholtenen Bürger in Mitleidenschaft ziehen. Die Rede von den „eigenen vier Wänden“ setzt dem Ganzen noch eins drauf, denn viele der osteuropäischen Arbeiter leben in Massenunterkünften und heruntergekommenen Monteurwohnungen. Unter diesen Bedingungen wird eine unkontrollierte „Durchseuchung“ de facto in Kauf genommen.

Aus der Perspektive des Kapitals ist es rational, die Lohnabhängigen so lange wie möglich arbeiten zu lassen, Hauptsache der Nachschub bleibt gewährleistet. Es ist rational, an Ausgaben für geräumige Arbeitsplätze, Lüftung, sanitäre Einrichtungen zu sparen. Es ist rational, beim Gesundheitsschutz ein Auge zuzudrücken. Denn dann können mit jedem Kotelett noch ein, zwei Cent mehr Profit gemacht werden. Und das ist ihnen die Gesundheit der Arbeiter natürlich wert.

Damit sich in den Fabriken etwas ändert, bedarf es vor allem der kollektiven Selbsttätigkeit der Lohnabhängigen. Sie haben in den letzten Wochen rund um den Globus und quer durch die Sektoren immer wieder für einen besseren Gesundheitsschutz oder die bezahlte Arbeitsniederlegung protestiert und gestreikt. „Wir sind kein Schlachtvieh“ war eine Parole, die in Italien und Spanien bei solchen Anlässen die Runde machte. Sollten sich auch hierzulande Arbeiterinnen und Arbeiter gegen diese Zustände wehren, müssen wir ihre Anliegen unterstützen.

Es kann nicht sein, dass ein Picknick im Park zur Moralpanik führt und gleichzeitig Menschen immer noch zu tödlichen Corona-Partys in den Fabriken antanzen müssen.

Ein Streik von migrantischen Beschäftigten in der spanischen Fleischindustrie ist gerade dringend auf finanzielle Unterstützung angewiesen:

https://www.fau.org/artikel/fuellt-die-streikkasse-migrantischer-hunger-streik-in-valencia-geht-in-die-8-woche

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Zum Weiterlesen:

Pfarrer Peter Kossen: Arbeitsmigranten sind Hochrisikogruppe – labournet

90 Corona-Infizierte [migrantische Saisonarbeiter] bei Müller Fleisch in Birkenfeld – mehr als 1.000 Mitarbeiter werden getestet – labournet

https://www.bbc.com/news/world-us-canada-52311877

Wir verweisen weiterhin auf den Beitrag „Arbeitskräfte willkommen“ von Peter Birke und Felix Bluhm in der Sozial.Geschichte Online 25/2019 – Red. express.